Pflegekinder in der Pubertät

Datum: 19.11.2019 um 18.30 Uhr

Titel: „Pflegekinder in der Pubertät“

Ort: Regionalstelle Pflegefamilien, Guyer-Zeller-Strasse 6 in 8620 Wetzikon

Dr. med. Ursula Davatz

Die Pubertät ist stets eine besonders sensible Entwicklungsphase. Die Jugendlichen setzen sich in dieser Zeit kritisch auseinander mit den Regeln und Wertvorstellungen ihrer Bezugspersonen, um ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wachsen sie aber nicht bei den Eltern auf, sondern vielmehr in  „Stellvertreter-Familien“, beziehen sie sich häufig dennoch auf ihre leiblichen Eltern und ihre verwandtschaftliche Herkunft und weisen die Pflegeeltern als nicht zuständig für sie zurück. Dies kann zu Konflikten führen und die leiblichen Eltern müssen von den Pflegeeltern gedanklich mit einbezogen werden, selbst wenn diese zuvor kaum eine Rolle gespielt oder nur einen negativen Einfluss gehabt haben.

In diesem Vortrag soll der sorgfältige Umgang mit den daraus resultierenden Konflikten besprochen werden.

Transkription

VORPUBERTÄT – von der ERZIEHUNG zur BEZIEHUNG

VORTRAG

5. Elternbildungstag Fricktal, Schule Wallbach, Finstergässli 9, 4323 Wallbach
Samstag, 5. Mai 2012
workshop 1: 10:30 bis 12:00 Uhr
workshop 2: 13:30 bis 15:00 Uhr

Die Erziehung der Kinder sollte spätestens zu Beginn der Pubertät zu Ende sein. Während die Eltern den Kindern vor der Pubertät Befehle geben und Gehorsam einfordern können, müssen sie zu diesem Zeitpunkt auf Beziehungspflege umstellen, eine klare eigene Position beziehen und sich mit dem jungen Menschen auseinandersetzen.

Auch das Regellernen sollte möglichst bis zur Vorpubertät abgeschlossen werden, da dann der pubertäre Widerstand des Kindes einsetzt. Dies und ähnliche Themen werden an diesem Vortrag erläutert und anschliessend gemeinsam diskutiert.

Der Vortrag wird von der Referentin Frau Dr. med. Ursual Davatz aus Baden gehalten. Sie ist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Familientherapeutin.

Zu allen Vorträgen, bitte hier klicken.

Das Buch – SCHIZOPHRENIE – DER BESESSENE DIPLOMAT

Auszug I

Ist Schizophrenie heilbar?

Schizophrenie ist die psychiatrische Krankheit, über welche am meisten geforscht wurde, die man aber von allen psychiatrischen Krankheiten dennoch am wenigsten versteht.

Schizophreniekrankheit kommt in allen Kulturen auf der ganzen Welt vor. Sie betrifft etwa 1% der Bevölkerung, d.h. bei einem von 100 Menschen wird im Laufe seines Lebens die Diagnose Schizophrenie gestellt. Männer wie Frauen sind etwa gleich häufig davon betroffen. Bei den Männern fällt jedoch die Erkrankung im Durchschnitt früher auf.

Systemisch betrachtet verkörpern Menschen mit Schizophreniekrankheit «Das Schwarze Schaf» der Familie. Im Volksmund verbindet man den Begriff Schizophrenie mit Bildern von verrücktem Verhalten, das extrem von der Norm abweicht. Der Ausruf «Das ist ja schizophren» dient in der Öffentlichkeit zur Abwertung von schwer nachvollziehbarem Verhalten und zugleich zum Aufrechterhalten sozialer Normen. «Schizophren» wird deshalb nicht selten auch als Schimpfwort verwendet. Dem Betroffenen droht dadurch der Verlust der sozialen Legitimation und als nächster Schritt die Ausgrenzung aus der Gesellschaft.

Aus medizinischer Sicht stellt die Schizophrenie eine gefürchtete Krankheit dar, deren Diagnose der Arzt ungern stellt und der Patient ungern erhält, weil das Damoklesschwert der Unheilbarkeit über ihr hängt. Trotz langjähriger Anstrengungen der Forschung über eine adäquate Behandlung gehen Fachleute wie Laien auch heute noch von der Annahme aus, dass Schizophrenie in der Mehrheit der Fälle nicht heilbar sei. Diese Haltung wird auch unterstützt durch den häufig zitierten statistischen Drittelverlauf, die sogenannte «Prognostische Daumenregel». Sie besagt, dass ein Drittel der Erkrankten spontan heilt, ein Drittel mit deutlichen Symptomen auf tieferem Funktionsniveau stagniert und ein Drittel schwer beeinträchtigt wird, ständig Rückfälle hat und deshalb immer wieder Klinikaufenthalte benötigt. Vom letzten Drittel bleiben gar 10% dauerhaft hospitalisiert. Diese statistische Aussage lässt tatsächlich keine optimistische Prognose zu für zwei Drittel der Betroffenen, was sowohl für Patienten wie Angehörige eine schwere Hypothek darstellt und der therapeutischen Kunst der Psychiatrie in Bezug auf diese Krankheit kein gutes Zeugnis ausstellt.

Wie bedrohlich die Krankheit eingeschätzt wird, zeigt sich auch in der weit verbreiteten Meinung, die Behandlung der Akutphase müsse unbedingt in einer Psychiatrischen Klinik, ausgeschlossen von der Gesellschaft, quasi in Quarantäne durchgeführt werden. Da der Patient die soziale Ausgrenzung als therapeutische Massnahme aber nicht akzeptiert, weil sie für ihn eine Demütigung darstellt, kann sie nicht durchgeführt werden – es sei denn gegen seinen Willen. Die Familie will aber eine psychiatrische Klinikeinweisung gegen den Willen ihres Patienten möglichst verhindern, weil sie dies für ihr Familienmitglied als Entwürdigung und für ihr Familiensystem zugleich als Schande betrachtet. Sie kommt sich durch eine solche Massnahme in der Öffentlichkeit als Versager abgestempelt vor. Deshalb wird eine Erstbehandlung oft lange hinausgeschoben.

Die Konsequenzen davon sind meistens, dass es nach langer Verzögerung schliesslich doch zu einer stationären Zwangsbehandlung kommt. Dieser verspätete Therapiebeginn wird nun zusätzlich erschwert durch das psychische Trauma der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, alles schlechte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung und eine günstige Prognose dieser Krankheit.

Die theoretischen Erklärungsmodelle der Schizophrenie, die verwendet werden, basieren ausschliesslich auf neurochemischem und neuropsychologischem Wissen. Der soziale Aspekt hat im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen in den letzten dreissig Jahren bei dieser Krankheit kein nachhaltiges Interesse mehr gefunden. Fast alle Studien über die Interaktion zwischen Patient und Familie stammen aus den Jahren 1960 bis Ende 1980. Danach findet man fast keine wissenschaftlichen Arbeiten mehr auf diesem Gebiet. Die Forscher haben sich von einem interaktiven Erklärungsmodel der Schizophrenie abgewandt und befassen sich heutzutage vor allem mit psychopharmakologischen, neurochemischen und neurophysiologischen Aspekten. Bei diesem Forschungsansatz sind familieninterne Faktoren bei der Entstehung der Schizophrenieerkrankung vollkommen ausgeklammert.

Erweitern wir jedoch den Blickwinkel sowohl auf das Familiensystem und seine Interaktionen über Generationen hinweg als auch auf die lebensgeschichtlichen, individuellen Stressfaktoren wird ersichtlich, wie sich diese Krankheit allmählich emotional aufbaut und schlussendlich in einem Familienmitglied niederschlägt, welches die grösste Vulnerabilität mit sich bringt oder sich am vulnerabelsten Schnittpunkt im Familiensystem befindet.

Keine Krankheit wird in ihrer Entstehung so stark von den Biographien der Eltern des Betroffenen beeinflusst und bei keiner anderen Krankheit fühlt sich das familiale Umfeld derart befugt, auf den Patienten Einfluss nehmen zu müssen, um das eigene System zu schützen, wie bei der Schizophreniekrankheit.

Mit Absicht verlasse ich deshalb den gängigen Pfad der heutigen Klassischen Psychiatrie und betrachte die Schizophrenie mit diesem Buch aus systemischer Perspektive als eine «Biographische Krankheit», die über drei oder mehr Generationen entstanden ist.

An die Familienstudien der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts anschliessend, führe ich die Schizophrenieerkrankung erneut in den psycho-sozialen Kontext der Familie zurück und interpretiere sie aus systemischer Sicht als emotionale Blockade, die am Ende eines zum Stillstand gekommenen Entwicklungsprozesses eines Familiensystems in einer «Monsterwelle der Emotionen» zum Ausbruch kommt. Diese Blockade, die durch lang andauernde seelische Verletzungen im Familiensystem entstanden ist, wirkt sich entwicklungshemmend auf den Indexpatienten aus und schlägt sich schliesslich in seiner Schizophreniekrankheit nieder. Ist die Schwelle des Unaushaltbaren erreicht, erfolgt der Umschlag in die Psychose. Das betroffene Familienmitglied befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand schwerer innerer Turbulenzen, die mit grossem seelischem Leiden einhergehen.

Von der Bedeutung innerhalb des familialen Kontextes her gesehen, stellt die Schizophrenieerkrankung stets ein Bestreben des Betroffenen dar, als funktionalisiertes Familienmitglied aus dem Knäuel der emotional verstrickten Lebensabläufe der Eltern und ihrer Herkunftsfamilien einen Ausweg zu finden. Diese Verstrickung des familialen Umfeldes kann, wie gesagt, bis in die dritte Generation oder noch weiter zurückverfolgt werden.

Wegen der dysfunktionalen Beziehungen erzwingt das System eine Reduktion des Spannungsfeldes innerhalb der Familienstrukturen über einen Projektionsvorgang auf den identifizierten Patienten. Dadurch wird dessen individueller Entwicklungsprozess zur eigenständigen Persönlichkeit blockiert und der Eintritt ins Erwachsenenleben verhindert. Als krankheitsbetroffenes Familienmitglied macht es sich diese Rollenvorlage der Familie zum Lebensinhalt.

Im weiteren Verlauf spielt sich dann sein Leben – abgetrennt von der äusseren Wirklichkeit – vornehmlich in Funktion der Familie und das Leben der Familie in Funktion von ihm ab. Der Wunsch nach «Regie» ist der unüberhörbare, aber unausgesprochene Ruf aus der Mitte des in Aufruhr geratenen Familiensystems. Der Schizophrene folgt ihm gleich dem Gesang der Sirenen und übernimmt als «Besessener Diplomat» die Führung.

Im Verlauf meiner 40-jährigen Erfahrung im Umgang mit unzähligen Schizophreniepatienten und ihren Familien bin ich zur festen Überzeugung gelangt, dass eine «Therapie mit systemischem Ansatz» für die frühzeitige ambulante Behandlung von Schizophreniekranken unter Einbezug der Familie bei mehr als zwei Dritteln zu einem positiven Verlauf, ja in manchen Fällen sogar zu einer Heilung führen kann.

Dies bedingt jedoch, dass die behandelnde Fachperson zusammen mit der Familie das irrationale Verhalten des Patienten als verschlüsselte Kommunikation angeht nach der systemischen Regel: «Jedes Krankheitssymptom hat einen kommunikativen Wert».

Den verborgenen auftrag, der dieser Krankheit zu Grunde liegt, gilt es also zu entschlüsseln, sodass der interessierte Leser die Schizophrenie nicht mehr nur als hoffnungslose, unheilbare Krankheit sieht, sondern vielmehr als «Ephemerie» betrachten kann, als Erscheinungsform von Generationen übergreifenden Verstrickungen im Familiensystem, die es in der Therapie aufzuschlüsseln und neu zu ordnen gilt.

Es ist mein Anliegen, Fachpersonen, betroffenen Angehörigen und einer breiteren Öffentlichkeit, Einblick in diese mysteriöse Krankheit zu geben, ihr den Zugang zum «ver-rückten Dasein» dieser Menschen zu erleichtern und anhand von Beispielen neue systemtherapeutische Wege aufzuzeigen, die aus dieser scheinbar unüberwindbaren Welt der Verrücktheit herausführen.

Ziel dieses Buches ist es, die Schizophreniekrankheit über diesen neuen Zugang verständlicher zu machen, dem Leser Rede und Antwort zu stehen und gleichzeitig das Vertrauen in die systemische Familientherapie sowohl bei den Fachpersonen als auch bei den um Hilfe suchenden Angehörigen und Patienten zu stärken. Die Antwort auf die häufig gestellte Frage: «Ist Schizophrenie überhaupt heilbar?» lautet dann: «Ja, wenn der Hilfsdiesel rechtzeitig anspringt», d.h. wenn die «Systemische Therapie» als «Hilfsdiesel bei Schiffbruch» zum Einsatz kommt.

 Auszug II

Von Therapie-Fehlern zu Therapeuten-Regeln

Als Zusammenfassung der Systemtherapie von Familiensystemen mit Schizophrenieerkrankung führe ich als Essenz meiner Erfahrung einige wichtige Regeln auf, die im Umgang mit Therapiefehlern entstanden sind.

Therapie als Lernprozess

Die systemische Familientherapie besteht aus einem fortlaufenden Lernprozess, der nicht nur die Familie betrifft, sondern auch den Therapeuten einbezieht. Da jedes Familiensystem einzigartig ist, muss auch die therapeutische Kunst immer wieder neu gelernt bzw. neu erfunden werden nach dem Satz von Piaget «apprendre c’est réinventer», «lernen ist wiedererfinden».

Behält der Therapeut diese lernende Haltung bei, passt er die Interventionen im Verlauf der Therapie immer wieder von neuem dem Entwicklungsstand der Familie an und hält sich an die wichtigste aller Therapeuten-Regeln:

Der Therapeut hat die therapeutische Kunst anhand von Therapie-Fehlern laufend zu verbessern und dadurch auch seine Methode stetig weiter zu entwickeln.

Die erste Begegnung – der erste Eindruck

Bei der Behandlung von Schizophrenen und ihren Familien ist die erste Begegnung ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der Therapie nach dem englischen Sprichwort: «you never have a second chance to make a first impression».

Schizophreniefamilien sind besonders schreckhafte Systeme. Werden sie schon bei der ersten Begegnung verunsichert oder gar erschreckt, ist dies so leicht nicht wieder gut zu machen.

Der erste Auftritt verlangt deshalb vom Therapeuten instinktsicheres Verhalten und gleichzeitig Sensibilität, denn nicht nur beim Patienten, auch bei den Angehörigen besteht eine niedrige Reizschwelle für die Fluchtreaktion, was zum sofortigen Abbruch der Therapie führt.

Der Therapeut muss also in der Lage sein, gleich zu Beginn der Therapie das Vertrauen der Familie zu gewinnen. Unsicherheit, Angespanntheit wie auch zögerliches Auftreten des Therapeuten wird sofort registriert und verstärkt die Angst im Familiensystem. Die Folge davon ist, dass der Patient der nächsten Sitzung meist ohne Abmeldung fernbleibt und die Angehörigen sich unter irgendeinem Vorwand für den nächsten Termin entschuldigen. Der wahre Grund bleibt dabei unausgesprochen.

Nehmen die Angehörigen dennoch weiterhin an der Therapie teil, kann es vorkommen, dass sie durch das zögerliche Auftreten des Therapeuten verunsichert werden, ihn deshalb mit Vorwürfen überhäufen und ihn wissen lassen, dass sie an seiner Kompetenz zweifeln. Dies führt in der Regel zu einer ambivalenten therapeutischen Haltung, da der enorme Leistungsdruck für den Therapeuten meist schwer auszuhalten ist. Die Familie nimmt diese Ambivalenz sofort wahr und das therapeutische Bündnis geht in Brüche, noch ehe es richtig begonnen hat. Manchmal kann in einer solch schwierigen Situation ein erfahrener Supervisor dem Therapeuten beratend zur Seite stehen, sodass die Therapie trotz zwiespältiger Gefühle auf beiden Seiten fortgesetzt werden kann.

Ärztliche Abkehr vom Krankheitssymptom

Die Ironie der ärztlichen Ausbildung in Bezug auf die Behandlung von Schizophreniepatienten liegt darin, dass der Arztberuf gezielt darauf ausgerichtet ist, bei der Behandlung der Patienten ausschliesslich auf Krankheitssymptome zu achten. Vom Beruf her sind Ärzte als «Symptomjäger» ausgebildet. Sie wollen Krankheitssymptome aufspüren, um diese dann zu bekämpfen.

Bei der Schizophrenie wird diese Strategie jedoch zum Hindernis, da die Symptome nur ein Ablenkungsmanöver von den systemischen Problemen im Hintergrund darstellen. Eine Schizophreniebehandlung, die sich ausschliesslich auf Symptombekämpfung ausrichtet, ist aus systemischer Sicht ein Kampf mit den Windmühlen. Eine hilfreiche systemische Faustregel lautet denn auch:

Interpretiere die Symptome des Patienten und sein Verhalten immer auf dem Hintergrund seines Familiensystems, wenn möglich über mehrere Generationen hinweg.

Aus diesem erweiterten Blickwinkel stellen sich dann die typischen systemischen Fragen wie:

  • Was soll das Verhalten des Patienten bewirken?
  • Was ist die geheime Botschaft, die das Familiensystem über die Krankheit zum Ausdruck bringt?
  • Worin liegt der kommunikative Wert des Symptoms?
  • Was ist die verschlüsselte Aussage, die im Wahn des Indexpatienten zum Ausdruck kommt?
  • Wie hält der Wahn das Familiensystem zusammen? und andere prozessorientierte Fragen.

Von der Symptombehandlung zur Systembetrachtung

Konsequentes Umlernen der ärztlichen Therapeuten – der lange Weg von der Symptombehandlung zur Systembetrachtung – ist also Voraussetzung für eine erfolgreiche systemische Schizophreniebehandlung. Nicht ärztlichen Individualtherapeuten wie Psychologen oder Fachpersonen aus der Pflege fällt dieses Umdenken oft etwas leichter, weil sie vermehrt beziehungsorientiert und weniger symptombezogen arbeiten. Wenn sie aber nicht systemtherapeutisch geschult sind, steht ihnen bei der beziehungsorientierten Arbeit häufig die beschützende fürsorgerische Haltung im Weg. Ihr therapeutisches Verhalten ist von der Vorstellung geprägt, den «armen Patienten» vor dem «bösen Umfeld» insbesondere seiner Familie schützen zu müssen. Mit dieser Einstellung üben sie aber das gleiche überbehütende Verhalten aus, wie es den Müttern von Schizophreniepatienten eigen ist.

Das Versagen der Logik

Selbst erfahrene Therapeuten stossen sich immer wieder am irrationalen Verhalten und Denken der Schizophrenen, ihrer verzerrten Wahrnehmung und ihrer befremdenden Interpretation der Realität. Dieses «Verrückt-Sein», so meint man, sollte doch durch vernünftiges Argumentieren wieder auf den Boden der Realität zurückgebracht werden können!

Das Appellieren an die Vernunft ist aber bei Schizophreniepatienten ein therapeutischer Kunstfehler. Mit den Mitteln der Vernunft ist bei Schizophrenen nichts zu erreichen, so einleuchtend dies auch immer für einen vernünftig denkenden Menschen erscheinen mag. Alle Überredungskünste tragen nur zur Erhöhung der emotionalen Stresssituation bei und somit zur Verstärkung der schizophrenen Symptome. Luc Ciompi hat dieses Phänomen mit dem Begriff der «Affektlogik» treffend umschrieben.

Es ist deshalb Aufgabe des Therapeuten, an erster Stelle die Emotionen zu beruhigen – aber nicht mit der Vernunft, sondern mit der eigenen ruhigen, empathischen Beziehungsaufnahme zum Patienten, denn es gilt auch für erfahrene Fachleute der Leitsatz:

Bei Schizophrenen sind es die Emotionen, die dem Verstand diktieren, was logisch zu sein hat, und nicht umgekehrt.

Absage an den Aktivismus

Ein bekannter Standartsatz von Eltern Schizophrener lautet meistens: «So kann es nicht weitergehen, jetzt muss unbedingt etwas geschehen – und zwar sofort.» Dieser Notruf verleitet Therapeuten immer wieder zu Aktivismus und zur sofortigen Verantwortungsübernahme für das Familiensystem. Diesem Drängen der Familie nach unmittelbarem Handeln muss der Therapeut aber unbedingt widerstehen können, sonst wird er zum verlängerten Arm der Familie, begeht unweigerlich therapeutische Fehler und macht mehr vom gleichen nach dem französischen Sprichwort: «plus ça change, plus c’est la même chose.»

Die Aufforderung der Eltern zu Sofortmassnahmen mag beim Therapeuten den Eindruck hinterlassen, dass das Familiensystem für eine Intervention bereit ist. Dem ist aber nicht so.

Der Therapeut muss die Bereitschaft für eine therapeutische Intervention zuerst durch gezielte Fragen überprüfen. Trifft er dabei auf Widerstand, ist dies ein Hinweis für eine behutsamere Gangart. In diesem Fall soll er sich lediglich für ein vertieftes empathisches Verständnis des Familiensystems einsetzen und auf jegliche Strategie verzichten, die auf eine vorschnelle Veränderung abzielt.

Das therapeutische Potential liegt bei den Gesunden

Die systemische Familientherapie geht von der Regel aus, dass eine therapeutische Intervention die grösste Nachhaltigkeit für den Heilungsprozess hat, wenn sie bei den hierarchisch höchsten Familienmitgliedern ansetzt und nicht beim kranken Patienten, dem schwächsten Mitglied der Familie.

Die wichtigsten therapeutischen Fortschritte finden deshalb zuerst bei den Eltern und erst als Folge davon beim Patienten statt.

Zu dieser Überzeugung, dass für die Heilung des Schizophrenen die Therapie vor allem bei den Eltern anzusetzen hat, muss aber zu allererst der Therapeut selbst gelangen. Nur wenn er dieses systemische Grundprinzip erkannt und wirklich verinnerlicht hat, kann er aus seiner Überzeugung heraus auch die Eltern erfolgreich anleiten. Erst dann können die Eltern über das therapeutische Handeln auch selber spüren, dass sie eine echte Chance haben, den weiteren Verlauf des Krankheitsgeschehens ihres Kindes aus eigener Kraft in eine positive Richtung zu lenken.

Dieses Vorgehen, das auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, verlangt vom Therapeuten stets Geduld für die Lern-Zeit der Eltern. Sie müssen von ihm immer wieder freundlich davon abgehalten werden, das «Aktionsglied Patient» in erzieherischer Weise verändern zu wollen. Dieses Ansinnen ist ein elterlicher Reflex, quasi eine «déformation professionnelle» durch ihre Elternrolle.

Das hartnäckig persistierende Erziehungsverhalten der Eltern dem Patienten gegenüber ist jedoch auch eine Abwehr gegen jegliche Änderung ihrer eigenen Einstellung ihrer Herkunftsfamilie und ihres eigenen Verhaltens gegenüber. Eltern denken primär nie daran, dass sie bei sich etwas verändern sollten, wenn sie therapeutische Hilfe für ihr schizophrenes Kind aufsuchen.

Gelingt es dem Therapeuten jedoch, den Fokus vom Patienten weg auf die Eltern zu lenken, ohne dass die Eltern dadurch von ihren Schuldgefühlen blockiert werden, ergibt dies den Anstoss zu einer grundlegenden Systemveränderung. Haben die Eltern die Notwendigkeit einer eigenen Verhaltensänderung erst einmal erkannt, ist systemtherapeutisch gesehen ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung getan. Die scheinbar ausweglose Schizophreniekrankheit ihres Patientenkindes wird plötzlich zu einer von ihnen auf neue Art beeinflussbaren Grösse.

Elterliche Wertesysteme berücksichtigen

Beim therapeutischen Umgang mit den Eltern ist grundsätzlich darauf zu achten, dass man ihre Wertsysteme nicht verletzt und nach dem Prinzip handelt: «Begegne jedem Menschen in seinem eigenen Wertsystem.»

Eltern wollen für ihre Kinder immer nur das Beste. Die Eltern von Schizophrenen sind dabei keine Ausnahme, im Gegenteil. Sie geben sich häufig besonders Mühe und scheuen keinen Aufwand. Sie versuchen oft jahrelang angestrengt, ihre schwierige Familiensituation und ihr krankes Kind nach den ihnen bekannten Regeln zu meistern.

Kommen Eltern schliesslich dennoch zur Therapie, dann erwarten sie in der Regel vom Therapeuten in erster Linie Akzeptanz und Verständnis für ihre grossen Anstrengungen. Sie suchen Verständnis für ihre besonderen Problemgeschichten, für verborgene Traumata und Tabus sowie für ihre ganz speziellen Werte, die ihnen besonders am Herzen liegen. Verpasst es der Therapeut, empathisches Verständnis zu zeigen, dann verletzt er ihr Selbstwertgefühl, wenn er zu schnell Veränderungen einleitet, ohne ihr Wertsystemen berücksichtigt zu haben. Übergeht er ihre Anliegen, dann geraten Mütter wie Väter in Aufruhr. Sie leisten Widerstand gegen jegliche Veränderungsvorschläge und brechen die Therapie ab. Deshalb gilt die Faustregel:

Man soll das System immer dort abholen, wo es sich gerade befindet und nicht dort, wo man es gerne haben möchte.

Von manchen Systemtheoretikern wird das reaktive Verhalten der Familie auf Interventionen des Therapeuten auch mit dem Begriff des Zwangs zur «Homoeostase» umschrieben. Sie gehen davon aus, dass jedem Familiensystem von Natur her grundsätzlich ein Impuls innewohnt, gegen therapeutische Veränderungsversuche Widerstand zu leisten.

Das Konzept der Homoeostase erlaubt Therapeuten eine unkritische Einstellung sich selbst gegenüber und macht sie blind gegen ihre therapeutischen Fehler, mit welchen sie diese sogenannte Homoeostase-Reaktion im Familiensystem selbst ausgelöst haben.

Jedes Familiensystem hat seine eigenen Wertvorstellungen und Tabus aus der Herkunftsfamilie. Der Therapeut hat darauf Rücksicht zu nehmen, will er nicht schon gleich zu Beginn der Therapie eine Abwehrreaktion auslösen.

Chaotisches Aufschaukeln emotionaler Prozesse

Kleine Probleme können in Schizophreniefamilien innerhalb kürzester Zeit zu grossen Turbulenzen eskalieren, weil sowohl der Patient in seiner Psychose als auch die Familie selbst eine erhöhte emotionale Eskalationstendenz in sich tragen. Ich nenne dieses Phänomen «Das chaotische Aufschaukeln emotionaler Prozesse».

Aufkommende Angst im Auge zu behalten ist deshalb eine wichtige Grundregel im Umgang mit Schizophreniefamilien.

Nimmt sich der Therapeut nicht genügend Zeit zur Krisenintervention und überlässt die Familie in dieser Phase des emotionalen Sturms sich selbst, kann es leicht zu einer erneuten akuten Psychose mit entsprechend destruktiven Interaktionen kommen.

Der emotionale Sturm einer akuten Psychose ist an sich nicht gefährlich, wenn der Therapeut sofort stützend und ordnend zur Seite steht.

Es ist deshalb hilfreich, wenn der Therapeut in solchen Krisenmomenten telefonisch erreichbar ist. Durch den Präsenzdienst kann er eine weitere Eskalation häufig rechtzeitig verhindern. Schon nur das Angebot allein, im Notfall telefonieren zu dürfen, beruhigt die Familie oft hinreichend, sodass sie seine Hilfe gar nicht erst, oder zumindest nur sehr selten, in Anspruch nehmen muss.

Triangulierung des Therapeuten

Das Triangulationsverhalten der Eltern ist eine besondere Herausforderung für den Familientherapeuten. Beide Eltern versuchen in ihrem chronischen Partnerkonflikt, den Therapeuten immer wieder auf ihre Seite zu ziehen und ihn als Machtfaktor gegen ihren Partner zu instrumentalisieren. Der Therapeut muss deshalb besonders darauf achten, dass er von den Eltern nicht trianguliert wird. Er darf niemals die Advokatenrolle für den einen oder andern Elternteil übernehmen, sondern muss stets seine eigene unabhängige Position behalten. Er darf sich aber auch nicht vom Patienten gegen die Eltern – oder umgekehrt – von den Eltern gegen den Patienten triangulieren bzw. instrumentalisieren lassen.

Sein Ziel soll sein, zwischen den Eltern genügend gegenseitige Akzeptanz zu schaffen, sodass sie den entwicklungshemmenden Zwang zur gegenseitigen Negation aufgeben können. Um dies zu erreichen, muss keine Einigung zwischen den Eltern angestrebt werden. Im Gegenteil, der Therapeut soll sogar gleich zu Beginn die nicht zu vereinbarenden Standpunkte von Mutter und Vater als Ansatz zur Differenzierung verwenden und ohne jegliche Wertung möglichst offen zur Sprache bringen und so die Eltern in ihrer gleichwertigen Bedeutung hervorheben.

Sinnloser Kampf gegen die Mutter-Kind Symbiose

Die Mutter-Kind-Beziehung hat eine arterhaltende Funktion. Sie steht für die Frau an erster Stelle und kommt noch vor der Paarbeziehung, sobald sie Mutter geworden ist.

Die enge Mutter-Kind-Beziehung lockert sich normalerweise während der Pubertät in der Ablösungsphase. Bei Familien mit einem schizophreniekranken Kind bleibt diese enge symbiotische Beziehung jedoch über das Pubertätsalter hinaus bestehen. Der Therapeut muss sich deshalb dieser Beziehung mit besonderer Sorgfalt annehmen.

Sowohl die Mutter als auch das Patientenkind wehren sich vehement gegen jegliche therapeutische Intervention, die darauf hinausläuft, die symbiotische Mutter-Kind Beziehung – einer Nabelschnur vergleichbar – abrupt zu trennen. Therapeuten verfallen aber immer wieder diesem Irrtum. Die Therapie artet dann in einen Machtkampf aus, den die Therapeuten regelmässig verlieren.

Die symbiotische Mutter-Kind Beziehung stellt ein geschlossenes System der Gefühle und Bedürfnisse dar. Sowohl die Mutter als auch das Patientenkind nehmen jeweils beim andern die feinste Gefühlsregung und Unstimmigkeit wahr und versuchen, diese sofort auszugleichen.

Über diese intensive emotionale Bindung fühlt sich nicht nur die Mutter für das Kind, sondern auch das Kind für die Mutter verantwortlich. Dies kann soweit gehen, dass nicht nur die Mutter das Kind, sondern auch das Kind seine Mutter vor dem «Bösen» dieser Welt» meint beschützen zu müssen. Beide benutzen so ihre Angst und Sorge um den andern, um die eigene Selbstunsicherheit zu verbergen. Autonomie und Eigenverantwortung empfinden sowohl Mutter wie Kind als bedrohlich.

Mütter erlauben dem Therapeuten keinen Zugang zu dieser engen Mutter-Kind Beziehung, solange sie kein Vertrauen in den Therapeuten haben. Sie beharren unter diesen Umständen auf der festen Überzeugung, dass nur sie in der Lage sind, ihrem Kind wirklich helfen zu können. Ihre Sorge um das kranke Kind ist ihre wichtigste Beschäftigung, von der sie nicht ablassen können, solange der Therapeut eine gewaltsame Trennung zwischen ihnen und ihrem Kind verlangt.

In dieser Situation ist es oft hilfreich, eine prozesshafte Beziehungsanamnese über die Symbiose zwischen Mutter und Kind aufzunehmen. Der Therapeut lässt sich dabei von der Mutter ausführlich schildern, wie die Interaktion zwischen ihr und dem Patientenkind im Detail abläuft, ohne jedoch die interaktiven Verhaltensmuster in irgendeiner Weise zu werten oder gar verändern zu wollen.

Gelingt es dem Therapeuten, sich von der Mutter die Interaktion präzise schildern zu lassen und ihren Ausführungen eine wertfreie Akzeptanz entgegenzubringen, dann fühlt sie sich seiner Unterstützung sicher. Sie hat dann oft selbst ein «Aha-Erlebnis» und sieht plötzlich die emotionale Negativspirale zwischen sich und ihrem Patientenkind. Dies versetzt sie dann aber in die Lage, eine entsprechende Veränderung bei sich vorzunehmen und dem Therapeuten die Führung zu überlassen.

Zu diesem Zeitpunkt kann der Therapeut auch die Zusage der Mutter erwirken, den Vater ins Beziehungsumfeld des Patientenkindes einzulassen, sodass er seine väterliche Führungsaufgabe ihm gegenüber übernehmen kann.

Therapeutischer Machtkampf – ein Kunstfehler

Ärztliche Therapeuten reagieren oft erstaunt, manchmal sogar irritiert, wenn sich Patient oder Angehörige aktiv gegen ihre Strategie zur Wehr setzten. Als Vertreter der medizinischen Autorität mit entsprechendem Fachwissen können sie es nur schlecht akzeptieren, wenn ihre Anweisungen von Patienten- oder Angehörigenseite her in Frage gestellt werden. Sie sind es gewohnt, dass sie das Wissen und das Sagen haben und sich jederzeit unangefochten durchsetzen können.

Autoritäres Verhalten dieser Art motiviert die Patientenfamilie jedoch nicht, sich auf einen Lernprozess einzulassen. Vielmehr stösst eine solche Einstellung des Arztes die Patientenfamilie vor den Kopf, ja beleidigt sie womöglich, wenn er, sichtlich irritiert, seiner Autorität Nachdruck zu verschaffen versucht.

Kommt es zum Machtkampf, gewinnt immer der Patient mit seinem Kranksein. Auch die Patientenfamilie kann auf diese Weise ihren Status quo erhalten. Der therapeutische Prozess steckt dann in einer Sackgasse.

Kritik und das Hinterfragen der ärztlichen Anweisungen von Seiten der Patientenfamilie sollten immer dahingehend interpretiert werden, dass die Familie zwar aktiv am therapeutischen Prozess mitmachen möchte, die Zielsetzung des Therapeuten aber mit der Realität der Familie nicht übereinstimmt.

Der Therapeut sollte den Widerstand der Familie deshalb als Aufforderung an sich selbst verstehen, seine Interventionsvorschläge noch einmal sorgfältig zu überprüfen, ob der Zeitpunkt für die vorgeschlagene Intervention noch zu früh oder nicht genügend systemgerecht war und dann sein therapeutisches Vorgehen zu optimieren versuchen.

Der erfahrene Therapeut betrachtet die Therapie, wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, immer auch als Lernprozess für sich selbst und als Feinschliff für sein Therapie-Instrumentarium. Er korrigiert seine therapeutischen Interventionen fortlaufend, wenn es die Familiensituation erfordert. Er vertritt seinen Standpunkt zwar selbstsicher und ruhig, vermeidet es aber tunlichst, die Familie davon überzeugen zu wollen, dass er im Recht ist, wenn sie Widerstand leistet – auch wenn er sogar theoretisch Recht haben mag.

Der erfahrene Therapeut gibt nur die allgemeine Richtung vor. Er überlässt es der Familie, selbst den richtigen Zeitpunkt, das «Timing» zu bestimmen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Mit dieser Haltung erleichtert er der Familie den Therapieprozess und befreit sich selbst vom Erfolgsdruck, sodass die Therapie auch unter erschwerten Umständen und bei wiederholten Rückschlägen fortgesetzt werden kann nach dem Motto: «Der Weg ist das Ziel.»

Unerfüllte Wünsche der Eltern

Hinter den Kulissen der Kernfamilie verbergen sich stets Probleme aus der Herkunftsfamilie. Es lohnt sich deshalb, hinter die Kulissen zu schauen.

Sowohl Väter wie Mütter können oft unerfüllte Ambitionen im Stillen mit sich tragen, heimliche Wünsche, die sich in der Folge behindernd auf die Entwicklung ihres Patientenkindes auswirken. Deswegen ist es aus therapeutischen Gründen sinnvoll, Eltern nach ihren unerfüllten Ambitionen oder anderen nicht ausgesprochenen Träumen zu fragen.

Nicht erfüllte, über Jahre im Verborgenen gehegte Wünsche sollten deshalb mit jedem Elternteil einzeln ernsthaft auf eine noch mögliche Realisierung hin geprüft werden im Sinne einer Interessenspflege, einer Freizeitbeschäftigung oder gar einer Weiterbildung. Auch wenn die zurückgehaltenen elterlichen Wünsche noch so unbedeutend und nebensächlich erscheinen mögen – unerfüllte Wünsche sind stumme Störfaktoren. Offene Gespräche über verdeckte Aspirationen und geheime Träume wirken klärend. In der Folge entlasten sie den Patienten.

Die Entwicklung des Patienten zur Selbständigkeit ist oft erst dann möglich, wenn die Eltern – unabhängig von ihrer Vater- und Mutterrolle – sich ernsthaft ihrer eigenen Herzenswünsche annehmen.

Auszug III

Nachwort an die Eltern

Zum Abschluss dieses Buches möchte ich noch etwas zur Ermutigung verzweifelter Eltern sagen. Beim Lesen dieses Buches werden sie entdeckt haben, dass ich auf vielen Ebenen therapeutische Vorschläge mache. Gleichzeitig weise ich auf Fehlentwicklungen hin, die sich über Generationen hinweg aufbauen, an welchen Eltern als Kinder ihrer Eltern und Mitglieder ihrer Herkunftsfamilien meistens Anteil haben.

Ich will ihnen als Eltern keine Schuld zuweisen noch ihr Handeln verurteilen. Schuld und Verurteilung sind keine Ratgeber in der systemischen Familientherapie. Fehler aber schon. Anhand unserer Fehler lernen wir. Erkennen wir unsere Fehler nicht, sind wir ohnmächtig, uns beraten zu lassen. Den Entwicklungsstillstand zu überwinden und uns zu fragen, wie man aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten herauskommt, soll unser Ziel sein.

Anzeichen der Entmutigung sind weit verbreitet. Wer liebt schon das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben? Sie sollen als Eltern deshalb ihre Aufmerksamkeit auf eine funktionelle Betrachtung und sachliche Beratung richten. Um dies zu erreichen, brauchen sie den Mut zur Unvollkommenheit. Das heisst aber nicht, dass sie auf Entmutigung, Schwäche und Verzweiflung bauen sollen. Genau so wenig wie es hilft, Vollkommenheit anzustreben.

Fehler machen wir alle als Eltern. Fehler zugeben können wir – wohl aus unserem Vollkommenheitswahn heraus – nicht oft genug. Denn besonders als Eltern glauben wir, dass wir etwas von unserem persönlichen Wert verlieren, wenn wir Fehler eingestehen. Das ist Schwäche. Mut zu bewahren angesichts begangener Fehler, das ist Stärke.

Ich kann die Bereitschaft zur Veränderung in der Familie von ihnen als Eltern nicht oft genug in ihrer Wichtigkeit hervorheben. Gelebte Verschiedenartigkeit von Mann und Frau sowie verschiedene Erziehungshaltungen bei der mütterlichen und väterlichen Rollenausübung sind nicht schizophrenogen, wenn sie als Eltern offen miteinander kommunizieren und ihre unterschiedliche Haltung gegenseitig respektieren. Klar kommunizierte Verschiedenartigkeit von ihnen als Eltern fördert die Wahrnehmung des Kindes und seine soziale Anpassungsfähigkeit. Es erhält dadurch eine flexible Grundstruktur für sein Denken und Handeln und wird robuster für die späteren Auseinandersetzungen im täglichen Leben mit seinen Mitmenschen.

Lassen sie sich helfen, dann können sie ihrem kranken Kind und auch sich selber helfen. Lernen sie nicht, sich helfen zu lassen, dann kann ihnen keiner helfen.

Doch denken sie auch daran, dass dieser Einsatz Zeit erfordert. Mehr Zeit als ihnen vielleicht lieb ist. Der Mut zu kleinen Schritten verkürzt aber diese Zeit und ermutigt sie zum nächsten Schritt.

Reife bedeutet nicht Vollkommenheit. Reife bedeutet Möglichkeitssinn, Verwirklichung des Möglichen. Machen sie es möglich, dass ihr Kind sich entwickeln kann.

Der Anfang liegt bei ihnen als Eltern – lassen sie dabei ihre Biographie nie aus den Augen und beherzigen sie meine Bitte, auf das emotionale Echo aus dem Umfeld Ihrer Herkunftsfamilie zu hören.

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