Karl Studer: Ursula, Du bist eine Pionierin der Schweizer Psychiatrie, hast jahrelang die Externen Psychiatrischen Dienste Aargau geleitet, bist eine begnadete Ausbildnerin in System- und Familientherapie, bist unermüdlich aktiv in Tagungen und mit Vorträgen, schreibst Bücher um die Situation psychisch kranker Patienten den Kollegen, Angehörigen und der weiteren Bevölkerung nahezubringen. Ich denke, Du bist auch eine kreative Querdenkerin in der Aargauer und Zürcher Psychiatrie-Szene.
Du blickst auf über 40 Jahre Erfahrung im Umgang mit Patienten und Familiensystemen bei schwersten Krankheitsbildern wie der Schizophrenie, Psychosomatik und Suchtverhalten sowie Delinquenz.
Woher hast Du all die Kraft und den Mut, Dich über die Jahrzehnte mit diesen vielfältigen Krankheitsbilder zu beschäftigen?
Ursula Davatz: Ich liebe meine Arbeit über alles, finde sie nach wie vor äusserst spannend und lerne täglich von meinen Familien und ihren komplexen Situationen dazu. Gleichzeitig erfahre ich natürlich auch, dass ich Probleme innerhalb der Familiensysteme schneller erfassen kann und somit effektiver und effizienter werde in meinen Behandlungen. Komplexe Probleme faszinieren mich und fordern mich heraus. Ich kann hier vielleicht noch einen Medizinerwitz anfügen: «Der Chirurg weiss nichts, aber kann alles, der interne Mediziner weiss alles, aber kann nichts, der Psychiater weiss nichts und kann nichts, dafür lernt er ständig dazu».
S04-12: „Eine neue Psychiatrische Diagnostik – Folgekrankheiten des Genotyps ADHS und ADS nicht Komorbidität
Der Workshop von Dr.med. Ursula Davatz wird am Freitag 15.09.2017, 14.00h im Raum Bellavista 2 stattfinden.
Das Thema der Tagung lautet “Psychiatrie der Zukunft“. Die Forschung in der Psychiatrie ist heute an erster Stelle auf die viel versprechenden Neurowissenschaften ausgerichtet. So interessant all diese Erkenntnisse sind, so enttäuschend wenig Fortschritte haben sie für den klinisch-therapeutischen Alltag gebracht. Auch die Forschung in der Genetik, die viele neue Hoffnungen weckt hat uns in der Psychiatrie nicht weitergebracht. In diesem Vortrag wenden wir uns wieder ganz der klinischen Erfahrung und Beobachtung von Dreigenerationen Familien zu. Es soll dabei sowohl die genetische Veranlagung als auch das familiale Umfeld berücksichtigt werden.
Die Hypothese lautet: Angeborene Genotypen entwickeln sich in einem epigenetischen Prozess über ungünstige Interaktionen mit dem Umfeld während der prägenden Kindheitsphase und vor allem auch in der Adoleszenz zu verschiedenen psychischen Krankheiten.
ADHS und ADS sind heutzutage offiziell anerkannte Genotypen, die im psychiatrischen Alltag immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. Diese zwei Genotypen, wir nennen sie im weiteren auch Neurotypen, bestimmen die Gehirnentwicklung und auch die Persönlichkeitsentwicklung schon von Geburt an. ADHS und ADS teilen laut einer Cross Disorder Studie den gleichen veränderten Genlokus mit vier psychiatrischen Krankheitsbildern: der Schizophrenie, der Bipolaren Störung, der schweren Depression und dem Autismus. Im Gegensatz zu früheren Annahmen weiss man heute, dass die spezifischen Eigenschaften des ADHS und ADS auch im Erwachsenenalter weiterbestehen. 80% der Erwachsenen mit ADHS und ADS erhalten zusätzlich noch eine psychiatrische Diagnose. Man bezeichnet dies dann als Komorbidität.
Meine Interpretation dieses Befundes ist: ADHS und ADS sind keine Krankheiten und somit auch nicht unter die Diagnosen einzureihen. ADHS und ADS sind lediglich Genotypen, d.h. Neurotypen, die von Geburt her bestimmend sind für den Verhaltenstyp. Diese beiden Neurotypen decken sich sogar mit den schon lange verwendeten Persönlichkeitstypen “extravertiert“ und “introvertiert“. Das ADHS entspricht dem extravertierten und das ADS dem introvertierten Persönlichkeitstyp. Menschen mit diesen genetisch bestimmten Neurotypen ADHS und ADS können sich in 20% zu gesunden, zum Teil sogar sehr erfolgreichen Persönlichkeiten entwickeln. Diese Neurotypen beinhalten ein bestimmtes Erbgut, das sich, wie gesagt, erst in einer ungünstigen Interaktion mit dem Umfeld, einem epigenetischen Prozess, zu einer Krankheit entwickelt.
Diese neue Interpretation der Entstehungsgeschichte von psychiatrischen Krankheitsbildern, die sich als Folgekrankheiten der Genotypen ADHS und ADS aus der Interaktion mit dem Umfeld heraus entwickeln, erlaubt ein vollständig neues Verständnis für die Patienten, eröffnet effizientere systemische Interventionsansätze und nicht zuletzt auch bedeutende Möglichkeiten für eine effektivere Prävention.
AD(H)S ist ein Genotyp mit spezifischen Persönlichkeitszügen, der in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld zu psychischen Krankheiten führen kann. 80% der Menschen mit AD(H)S erhalten im Erwachsenenalter eine psychiatrische Diagnose. Lediglich 20% entwickeln keine psychische Krankheit.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.