
QUERULANTEN – von der Rechtskränkung zur Apokalypse
GENERAL-ANZEIGER, Nr. 13, 29.3.2012
Leitung Dr. med. URSULA DAVATZ, http://goo.gl/CA1tz – Begrüssung / Referate / workshop
Alle schwierigen, menschlichen Probleme brauchen aus unserer Sicht einen interdisziplinären Dialog und schlussendlich einen ganzheitlichen Ansatz. Um erfolgreich und effizient gelöst zu werden, benötigen wir möglichst viele Erkenntnisse und das Know-how über den Austausch mit anderen Fachleuten im Sinne des interdisziplinären Austauschs, der “Cross-fertilization“.
Wir offerieren interdisziplinäre Arbeitsgruppen, eine Art Plattform zum interdisziplinären Austausch über Phänome, Erscheinungsbilder, Verhaltensformen von Menschen, die in Not sind – die Querulanten.
Wir beurteilen an dieser Tagung nicht, wer “kriminell und zurechnungsfähig“ oder “krank und unzurechnungsfähig“ ist. Es geht vielmehr darum:
- wie gehen wir mit diesen Menschen um, sodass wir die Situation nicht noch schwieriger machen und vielleicht sogar uns selbst in Gefahr bringen?
- wie werden wir diesen Menschen gerecht, sodass sie sich verstanden fühlen und wir die Situation zu deeskalieren vermögen anstatt sie eskalieren zu lassen?
- wie können wir uns im Umgang mit diesen Menschen gegenseitig behilflich sein unter den verschiedenen Disziplinen und interdisziplinär handeln lernen?
workshop – ADHS UND DELINQUENZ
- ADHS ist eine Normvariante des Gehirns, die mit verschiedenen typischen Eigenschaften einhergeht, die genetisch vererbt wird.
- Die zwei wichtigsten sind die Hypersensibilität und die schlechte Impulskontrolle.
- Früher glaubte man die Störung wachse sich aus, heute weiss man,dass sich das Gehirn dieser Menschen nicht bis zur Norm entwickelt, aber Kinder mit ADHS lernen je nach ihrem erzieherischen Umfeld unterschiedlich damit umzugehen.
- Und das ist der springende Punkt:
über die Gen-Umwelt-Interaktion kann das ADHS im Erwachsenenalter zu einer psychischen Störung führen oder zu delinquentem Verhalten. Es geht meines Erachtens nicht um Komorbidität,sondern um Folgekrankheiten. - In diesem Workshop wollen wir jedoch nur das delinquente Verhalten betrachten und wie sich dieses aus dem ADHS über die entsprechende Erziehung entwickelt.
- Halten wir uns nochmals die beiden typischen Eigenschaften Hypersensibilität und mangelnde Impulskontrolle, ich könnte auch sagen leichte Überreizbarkeit, vor Augen, dann kann man sich leicht vorstellen, dass dies zu Problemen in der Interaktion mit dem Umfeld, genauer bei der Erziehung führen kann.
- Die hohe Sensibilität und leichte Überreizbarkeit führt schnell zu impulsiver und manchmal aggressiver Selbstverteidigung.
- Dieses aggressive Verhalten des Kindes ruft dann bei den Erwachsenen wiederum disziplinarische Massnahmen und disziplinarisches Erziehungsverhalten hervor.
- Besteht das Erziehungsverhalten dann aus Strafe, die zusätzlich emotional gefärbt ist, d.h. ebenfalls aggressiv ist, kann man sich die aggressive Teufelsspirale leicht vorstellen.
- Erzieher und ADHS-Kind schaukeln sich gegenseitig hoch.Schlussendlich entzieht sich das Kind aus Selbstschutz aus der Beziehung zum Erzieher und jegliche Erziehungsmassnahmen schlagen fehl. (Vergleich Pferd, das auf die Trense beisst und durchbrennt).
- Unter den Delinquenten hat es viele ADHS-Kinder, früher POS genannt, und wenn wir dem Erziehungsstil ihrer Eltern nachgehen, war dieser meistens bestrafend und auch inkonsequent, das heisst, es gab keinen strukturellen Halt.
- Studien von Moffit haben diese negative Gen-Umfeld-Interaktion nachgewiesen.
- Um die Entwicklung von delinquentem Verhalten bei AHDS-Kindern zu verhindern, sollte man sich an folgende Regeln halten:
- nicht durch Strafe erziehen, sondern nur durch Führung und klare Regeln.
- wenn die Regeln nicht eingehalten werden, soll man nicht mit Strafe darauf reagieren, sondern die Regel wieder klar vertreten und das Kind zur Kooperation auffordern und nicht zum Gehorsam(JesperJuul).
- Die eigene Emotionalität der erziehenden Person muss tief gehalten werden, damit keine Überreizung entsteht,die dann wieder in den aggressiven, selbstverteidigendenTeufelskreis mündet.
- Emotionen können nicht erzogen werden, Emotionen können nur beruhigt werden.
- Die Erziehung zum erwünschten Sozialverhalten darf erst zur Anwendung gebracht werden, wenn sich die Wellen wieder gelegt haben, in einer sogenannten Nachbesprechung “à froid“, in einer ruhigen Stimmung.
- Im Augenblick der Erregung können keine sozialen Regeln durchgesetzt werden. Diese wirken sonst nur demütigend und verletzend für das ADHS-Kind.
Dr. med. THOMAS KNECHT, http://goo.gl/dNuZZ – Forensik, Psychiatrische Klinik Münsterlingen,
QUERULANT kommt von QUERI (lat): vor Gericht klagen
«Querulus» ist ein «sich Beschwerender», ein «Rechtssuchender»
«Querulant» ist ursprünglich kein medizinischer Fachbegriff, stammt
vielmehr aus der Rechtssphäre, glitt aber rasch zum Schimpfwort ab.
Vgl. Synonyme aus dem Internet: Streitsucher, Streitsüchtiger, Kampfhahn, Krakeeler, Wortklauber, Krittler, Draufgänger, Raufbold, Prozesskrämer, Prozess-Hansel.
Ursprüngliche Bedeutung: Mensch, der sich leicht ins Unrecht gesetzt fühlt, der aus geringfügigem oder vermeintlichem Anlass Klage erhebt oder sich bei Behörden und Institutionen (Gerichte) beschwert oder ständig offensichtlich unbegründete Anträge stellt.
Paranoide Züge als Risikofaktoren ?
Im Vordergrund steht die paranoide Persönlichkeitsstörung (evtl. auch nur «akzentuierte Persönlichkeit mit paranoiden Zügen»). Deren diagnostische Kriterien gemäss ICD-10 sind:
- Übertriebene Empfindlichkeit bei Rückschlägen und Zurücksetzung
- Neigung zu ständigem Groll, wegen der Weigerung, Beleidigungen, Verletzungen oder Missachtungen zu verzeihen.
- Misstrauen und eine starke Neigung, Erlebtes zu verdrehen, indem neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich missgedeutet werden.
- Streitsüchtiges und beharrliches, situationsunangemessenes Bestehen auf eigenen Rechten.
- Häufiges ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber der sexuellen Treue des Ehe- oder Sexualpartners.
- Tendenz zu stark überhöhtem Selbstwertgefühl, das sich in ständiger Selbstbezogenheit zeigt.
- Inanspruchnahme durch ungerechtfertigte Gedanken an Verschwörungen als Erklärungen für Ereignisse in der näheren Umgebung und in aller Welt.
Die Leitsymptomatik besteht also aus krankhaftem Misstrauen, indem sich der Betroffene in seinem Status sehr schnell verunsichert oder bedroht fühlt.
Zum Vergleich: Diagnostische Kriterien gemäss DSM-IV. Mindestens vier dieser Kriterien müssen erfüllt sein.
- Verdächtigt andere ohne hinreichenden Grund, ihn/sie auszunutzen, zu schädigen oder zu täuschen.
- Ist stark eingenommen von ungerechtfertigten Zweifeln an der Loyalität und Vertrauenswürdikeit von Freunden oder Partnern.
- Vertraut sich nur zögernd anderen Menschen an, aus ungerechtfertigter Angst, die Informationen könnten in böswilliger Weise gegen ihn/sie verwandt werden.
- Liest in harmlose Bemerkungen oder Vorkommnisse eine versteckte, abwertende oder bedrohliche Bedeutung hinein.
- Ist lange nachtragend, d.h. verzeiht Kränkungen, Verletzungen oder Herabsetzungen nicht.
- Nimmt Angriffe auf die eigene Person oder das Ansehen wahr, die anderen nicht so vorkommen, und reagiert schnell zornig oder startet rasch einen Gegenangriff.
- Verdächtigt wiederholt ohne jede Berechtigung den Ehepartner oder Sexualpartner der Untreue.
Dr. med. JOSEF SACHS, http://goo.gl/KFdAO – Chefarzt Forensik, Psychiatrische Dienste Aargau
Wie gefährlich sind Querulanten – wie gefährlich mache ich sie?
Imput
Ärztliche Fortbildung vom 17. Oktober 2011
1. Was ist ein Querulant?
2. Was sagt die Psychiatrie dazu?
3. Wie gefährlich sind Querulanten?
4. Wie geht man mit Querulanten um?
5. Betti Bossy Rezept für den Umgang mit Querulanten
6. Bin ich ein Querulant? – Testen Sie sich selbst
QUERULANTENTEST
1. Du unterscheidest nicht zwischen “wichtigen” und “weniger wichtigen” Themen.
2. Du verteidigst jede deiner Meinungen mit der gleichen Leidenschaft.
3. Du redest schnell und hörst selten zu. Wenn du überhaupt eine Frage
stellst, dann um anzuschuldigen oder zu überzeugen – aber nicht um zu lernen.
4. Du siehst zwischen schwarz und weiss kaum Zwischentöne.
5. Du ordnest die Motive und Worte deines Gegenübers so negativ wie möglich ein.
6. Du gestehst dem anderen nicht zu, im Zweifel Recht zu haben. 7. Du hast keine Meinung, die du nicht auch aussprichst.
8. Du bist unfähig, Andersdenken mit Sympathie zu begegnen.
9. Dein erster Reflex ist die Kritik – dein letzter die Ermutigung.
10.Du kennst keine offenen Fragen. Alles passt in dein Raster.
11.Du ziehst eine gewisse Befriedigung und Sicherheit daraus, wenn andere
dich ablehnen oder kritisieren.
12.Du hast noch nie eine deiner wichtigen Überzeugungen geändert
Betty Bossi Rezept für den Umgang mit “Querulanten“
• Gesprächsinhalte im Voraus festlegen
• Fürsorgliche Haltung einnehmen
• Eher Fragen stellen als Anweisungen geben
• Klar und verbindlich auftreten, aber nie rechthaberisch und verbissen wirken
• Stress reduzieren
• Rechtsmittel aufzeigen
BEACHTE: Querulanten haben auch angenehme Seiten
• Sie geben nicht auf
• Sie kennen die Gesetze besser als viele Juristen
• Sie sind kreativ im Suchen nach Schwachstellen im System
Frau Prof. ANNEMARIE PIEPER, Philosophin, Universität Basel
URSACHE DES BÖSEN — DAS BÖSE IM MENSCHEN
Ein Querulant ist gemäss der Bedeutung des lateinischen Wortes querulus ein Mensch, der sich ständig öffentlich über etwas beklagt oder beschwert. Meistens fühlt er sich ungerecht behandelt, was er lautstark bekundet. Manchmal nimmt er das, was er für sein Recht hält, selbst in die Hand und wird im Extremfall gar zum Verbrecher (wie Michael Kohlhaas). Diese Tagung geht der Frage nach, ob so genannte Querulanten zur Gruppe der Kriminellen, der Kranken oder der Verzweifelten gehören. Für einen kriminellen Querulanten ist die Jurisprudenz zuständig. Kranke oder verzweifelte Querulanten hingegen sind eher ein Fall für die Psychiatrie. Aber wer nimmt die Abgrenzung vor, und nach welchen Kriterien?
Aus ethischer Perspektive stellt sich in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Frage nach der Verantwortung für eine Handlung, die anderen Menschen schadet. Wer absichtlich, also wissentlich und willentlich seinen Mitmenschen Schaden zufügt, gilt als böse. Aber was meinen wir damit? Friedrich Nietzsche hat darauf hingewiesen, dass etwas nicht objektiv, nicht an sich gut oder böse ist, sondern dass wir als moralisch Urteilende es sind, die Dinge und Menschen evaluieren, indem wir sie vergöttlichen bzw. verteufeln. „In jeder asketischen Moral — so Nietzsche — betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren.“ (MAM; KSA 2, 131) In der abendländischen Philosophie und im Christentum wurde oft der Körper als Sitz des Bösen bezeichnet, so als sei das Böse eine objektive Eigenschaft des Körpers, wobei ausser Acht blieb, dass wir dem Körper diese Eigenschaft zugeschrieben bzw. eingeschrieben haben.
„Böse denken heisst böse machen“, sagt Nietzsche und fährt fort: „Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. […] Muss denn Etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heissen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken!“ (Morg; KSA 3, 73) Der Effekt dieser Verteufelung aller körperlichen Bedürfnisse im allgemeinen, des Erotischen im besonderen hat laut Nietzsche das genaue Gegenteil des eigentlich Beabsichtigten bewirkt: „der ‚Teufel‘ Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden“. (Ebd.)
Die idealistische Körperideologie verortete das Böse in der Natur des Körpers. Sie sah das Verbrechen des Körpers darin, dass er es darauf anlegte, die Seele als Sitz der Vernunft und Inbegriff des Guten in ihren geistigen Vollzügen zu behindern, wenn nicht gar materiell zu infizieren und damit das seiner Natur nach Gute durch das Böse zu infiltrieren. All die Reinigungsrituale und Hygienemassnahmen, mit denen die Metaphysik und das Christentum aufwarteten, dienten einzig dazu, sich von den Beschmutzungen des Körpers zu säubern und dem Guten die Möglichkeit zu geben, sich an einem reinen, gleichsam ent-bösten Ort zu etablieren. Als absolutes Gegenstück zum Geistwesen, das in beständiger Katharsis dem Guten den Boden bereitet, wurde im Teufel die Materialisierung und Verkörperung des Bösen schlechthin gesehen. Zwar sei auch der Teufel Geist, doch verwende er seine Geistesgaben ausschliesslich darauf, Gelüste und Begierden zu schüren. So mache er sich zum Erfüllungsgehilfen des Körpers.
Die Schlüsselkategorie im Zusammenhang mit der Frage nach der Herkunft des Bösen ist Freiheit. Der neuzeitliche Mensch abendländischer Prägung schreibt sich kraft seiner Vernunft Freiheit zu: Freiheit von den Kausalketten der Evolution und Freiheit zu selbstbestimmtem Handeln. Das aufgeklärte Subjekt begreift sich als seiner selbst mächtiges, d.h. als autonomes Wesen. Doch diese Macht über sich selbst droht ständig zu eskalieren, weil es schwer fällt, Grenzen zu respektieren. Seit jeher testen Individuen, wie weit sie gehen können, bis zu welchem Grad sie ihre körperlichen und geistigen Kräfte zu steigern vermögen. Die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs durch immer riskantere Unternehmungen — etwa im sportlichen, politischen oder ökonomischen Umfeld — hat zur Folge, dass am Ende kein Mass mehr anerkannt wird. Wenn sportliche Höchstleistungen nur noch mit Hilfe von Dopingmitteln erbracht werden können; wenn grenzenloses wirtschaftliches Wachstum die Arbeitslosigkeit vergrössert bzw. die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert, wird Freiheit missverstanden im Sinne von Beliebigkeit bzw. reiner Willkürfreiheit von Machtgierigen. Die Erkenntnis der Aufklärung, dass Freiheit verantwortet werden muss und daher nicht grenzenlos sein kann, wird ignoriert.
Als moralisierte und zivilisierte Menschen kennen wir die Gefahren, die eine schrankenlose Freiheit und die damit verbundenen Allmachtsgelüste mit sich bringen. Die meisten halten sich an die Regeln der Freiheit — an moralische Normen und Rechtsgesetze —, die individuelle Freiheiten einschränken. Solche Einschränkungen sind legitimiert, wenn sie einvernehmlich beschlossen werden um der grösstmöglichen Freiheit aller willen. Trotzdem geniessen wir es, hin und wieder Möglichkeiten schrankenloser, in Verbrechen mündender Freiheit vor Augen geführt zu bekommen. Nicht weil das Böse als solches fasziniert, sondern weil die Abenteuer einer regellosen, umeingeschränkten Freiheit ein unglaubliches Machtgefühl erzeugen, das die tagtäglich erlebten kleineren oder grösseren Ohnmachten kompensiert. Ein packender Kriminalroman nimmt uns folgenlos gefangen. Wie Odysseus sich einst an den Mast seines Schiffes fesseln liess, um dem betörenden Gesang der Sirenen gefahrlos lauschen zu können, so lassen wir uns durch einen Krimi fesseln, darum wissend, dass die geschilderten Machtanmassungen und Grenzüberschreitungen fiktiv sind, gleichwohl aber Möglichkeiten einer Freiheit aufzeigen, die man sich manchmal wünscht, um unlösbar scheinende Konflikte mit einem Schlag aus der Welt zu schaffen.
Der für eine solche Freiheit zu entrichtende Preis ist jedoch hoch, wenn sie nicht nur in der Phantasie ausgelebt wird, und bedeutet bei nüchterner Betrachtung einen nicht zu verantwortenden Freiheitsverlust für die vom Bösen Betroffenen. Die Befriedigung, die man am Ende der Geschichte empfindet, wenn der Täter überführt und der Gerechtigkeit Genüge getan ist, könnte ein Indiz für die Einsicht sein, dass die Risiken und Nebenwirkungen der Entscheidungen, die uns der Alltag abverlangt, dem Leben bereits genug Würze geben, so dass ein Verbrechen sich nicht wirklich lohnt, um das eigene Machtpotential auszureizen.
Der Faustmythos und der Mythos vom Sündenfall lassen sich als paradigmatische Berichte über den masslosen Freiheitsdrang des Menschen lesen. Diese Mythen schildern keine historischen Ereignisse, sondern liefern eine Strukturbeschreibung der Willensfreiheit. Menschliche Individuen müssen — jedes für sich — darüber entscheiden, welchen Gebrauch sie von ihrer Freiheit machen wollen. Das theologische Konstrukt „Erbsünde“ meint nicht, dass wir als die Nachkommen unserer Ureltern deren Schuld und damit deren Böses geerbt hätten, so wie man die Schulden seiner Eltern erben — und das Erbe ausschlagen kann. Was wir von Adam und Eva geerbt haben, ist die Ausgangssituation aller humanen Lebewesen, welche in eine Welt hinein geboren werden, die sie nicht selbst gemacht haben, mit Geboten und Verboten — also Einschränkungen ihrer Freiheit — konfrontiert, deren Urheber nicht sie, sondern ein Gott bzw. die Vorfahren sind. Aufgerufen zur Freiheit, müssen sie wie Adam und Eva ihren Willen selbst bestimmen. Und wie bei Adam und Eva siegt auch bei ihnen der Egoismus des Eigenwillens über den Willen, sich zu zügeln und an Gesetze zu binden, die den Erhalt der Freiheit des Wir sichern sollen. Die Verabsolutierung des Ich blendet das Wir und dessen berechtigte Freiheitsansprüche aus. Die Folge ist, das zeigt Faust als Prototyp, Unfreiheit in Form von Unterdrückung, Diskriminierung, Vernichtung der anderen.
Doch was macht das Böse so anziehend, dass es zugleich Gegenstand des Abscheus und des Genusses ist? Wollen wir etwas über menschliche Abgründe herausfinden, von denen wir nicht sicher sind, ob sie nicht auch in uns selbst latent vorhanden sind, so dass wir am fremden Objekt Aufschlüsse über die eigene Person erwarten? Oder wollen wir uns gerade vergewissern, dass wir zu einem Verbrechen nicht fähig sind? Versuchen wir der Problematik des Bösen näher zu kommen, indem wir uns einer Figur zuwenden, die Aufschlüsse über das Böse verspricht: Mephisto. Mephisto ist der Teufel, die Verkörperung des Bösen. Was hat Mephisto für Faust so interessant gemacht, dass dieser bereit war, ihm seine Seele zu verschreiben, das kostbarste Gut, über welches ein Mensch verfügt?
Zunächst etwas zum Namen. Es lässt sich nicht mit letzter Klarheit eruieren, was Mephistopheles oder kurz Mephisto bedeutet. Die meisten leiten das Wort aus dem Hebräischen her: mephir = der Zerstörer, Verderber; und tophel = der Lügner. Mephisto ist also als einer, der die Menschen ins Verderben reisst, indem er sie belügt und betrügt. Manche deuten Mephistopheles als Zusammensetzung eines lateinischen und eines griechischen Wortes: mephitis = schädliche Ausdünstung der Erde und philia = Liebe: der den Gestank Liebende. Wo immer Mephisto auftritt, riecht es nach Pest und Schwefel. Er ist kenntlich an den Ausdünstungen der Hölle, die er verbreitet.
Mephisto ist jedoch — so meine These — anders als im Mythos geschildert keine eigenständige reale Gestalt, sondern die vom Menschen abgespaltene Kehrseite des Willens zum Guten. Der Teufel ist das Resultat, wenn das Böse als das Widergute gewissermassen nach aussen delegiert wird, obwohl der Mensch, sofern er als freies Wesen die Wahl zwischen Gut und Böse hat, das Böse eigentlich sich selbst zuschreiben muss. Insofern ist Mephisto als Inkarnation des Bösen in Goethes Faust im Grunde genommen keine selbstständige Figur, die ihre Macht einsetzt, um die Menschen zum Bösen zu verführen, sondern Mephisto ist das von Faust abgespaltene und für sich gesetzte Böse seiner selbst. Dem entsprechend lassen sich die Dialoge zwischen Faust und Mephisto als Selbstgespräche lesen, die Faust mit sich bzw. mit seinem Alterego führt, um seine Grenzen auszuloten und damit den Spielraum seiner Freiheit.
Faust ist der Prototyp eines Menschen, der sich selbst zum Bösen verführt. Am Beginn der Tragödie lernen wir ihn als einen zutiefst deprimierten Menschen kennen. Er hat sämtliche Wissenschaften studiert, sich alles an Erkenntnissen angeeignet, deren er habhaft werden konnte, und doch betrachtet er sich als gescheitert, als Tor, der so klug ist wie zuvor. Es ist ihm nicht gelungen zu entdecken, was die Welt im Innersten zusammen hält. Genau darin, in jenem Wissen, das ihm Macht über die Welt als Ganze verschafft hätte, sieht er aber den Sinn seines Lebens, den er seiner Meinung nach verfehlt hat. Was ihn fast in den Selbstmord treibt. Doch noch einmal mobilisiert er alle Kräfte und beschwört in sich die Geister, die er in seinem bisherigen, am Guten und an Gott orientierten Leben stets gebändigt hat. Nachdem es ihm im Guten nicht gelungen ist, den Schlüssel zur Welt zu finden, versucht er es nun mit dem Bösen, das er in sich herauf ruft und das ihm in Gestalt Mephistos entgegen tritt.
Mephisto charakterisiert sich selbst als „Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Er steht demnach für die andere Seite der Freiheit im Menschen, für die Freiheit zum Bösen, zur Destruktion der Gebilde des Guten. Aber insofern das Böse auf die Freiheit angewiesen ist, bleibt es unlösbar mit dem Guten verbunden. Die Freiheit zum Bösen ist eine parasitäre Freiheit, sie kann erst wirksam werden, wenn die Freiheit zum Guten produktiv war und etwas geschaffen hat, das die Freiheit zum Bösen in ihre Gewalt zu bringen und zu zersetzen trachtet. Aber sie kann immer nur die Produkte der Freiheit zum Guten zersetzen, nicht die Freiheit als solche, ohne zugleich sich selbst aufzuheben.
Nichtsdestotrotz lässt Faust in sich die Kräfte des Bösen frei. Er schliesst einen Pakt mit dem Teufel, dem er seine Seele verspricht, wenn es einen einzigen Augenblick geben sollte, den er in alle Ewigkeit nicht missen will. „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn!“ Die Freilassung der Kräfte des Bösen versetzt Faust einen ungeheuren Energieschub, der ihn verjüngt und mobil macht. Er geht auf Reisen, trifft Gretchen, verliebt sich in sie — mit all den schrecklichen Konsequenzen, die sein Pakt mit dem Bösen nach sich zieht: den Tod der Mutter, des Bruders, des neu geborenen Kindes und schliesslich Gretchens selbst. Faust überschreitet sämtliche, durch die Freiheit zum Guten gesetzten Grenzen, die im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen durch Sitte und Anstand sowie durch die moralisch gebotene Respektierung anderer Freiheit gezogen sind. Faust hat in sich Mephisto das Steuer überlassen, der die Produkte des Guten negieren und vernichten will.
Im zweiten Teil der Tragödie wird ein breites Panorama der abendländischen Kultur aufgefächert, und Faust lernt das in Mythen, Literatur und Geschichte aufbewahrte pralle Leben vergangener Zeiten hautnah kennen. Er erweist sich als lernfähig, vermag es aber nicht, die Magie des Bösen in sich zu überwinden. Er ahnt manchmal, dass die Vollkommenheit und Ganzheit, nach welcher er rastlos sucht, nicht auf dem Gebiet der Erkenntnis zu finden ist, sondern nur im Bereich der Moral, doch will er auf die Macht, welche die Freiheit zum Bösen ihm verschafft, nicht verzichten, obwohl er darunter leidet und mit Sarkasmus auf seinen mephistophelischen Zynismus reagiert.
Faust bleibt bis zuletzt ein zutiefst gespaltener Mensch, der seine Freiheit zum Guten und zum Bösen voll ausgeschöpft hat, hin und her gerissen zwischen Gott und Teufel, die in seinem Willen um die Vorherrschaft kämpfen. Wie all die Doppelgänger, die die Literatur kennt, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, oder wie Dorian Gray und sein Bildnis, das alle Spuren seiner Verfehlungen, Laster und Verwüstungen genau verzeichnet, ist auch Faust ein Zerrissener. Gleich Adam und Eva langt er nach etwas aus, das den Menschen unendlich übersteigt, und wie sie übersieht er dabei, dass er bereits im Paradies lebt, dass also die Bedingungen für ein sinnerfülltes Leben in ihm selbst liegen, in seiner Freiheit, von der er keinen egoistischen, sondern einen sozial verbindlichen Gebrauch machen soll. Erst der Verlust des Paradieses lässt ihn den Irrweg erkennen, der im destruktiven Gebrauch der Freiheit liegt und alle menschlichen Werte verhöhnt. Aber diese Einsicht allein reicht zur künftigen Fehlervermeidung nicht aus. Der Mensch muss seine Endlichkeit anerkennen und die Grenzen akzeptieren, die ein seiner selbst bewusstes, sich als frei bestimmendes Wesen bei seinen Zielsetzungen selbstverantwortlich zieht.
Das Problem des Bösen hat also seine Wurzel in uns selbst, in unserer Freiheit, die wir jederzeit missbrauchen können. Dies zeigt auch die in unserer westlichen Kultur das Menschenbild bis in die heutige Zeit prägende Geschichte vom Sündenfall. Darin wird berichtet, wie der Mensch zum ersten Mal zum Täter wurde, indem er sich gegen Gott erhob und damit den Boden bereitete für alle späteren Untaten, deren nächste der Brudermord war und schliesslich die Kreuzigung Jesu Christi. Die Geschichte vom Sündenfall versucht die in unserer Kultur überlieferte Vorstellung vom Ursprung des Bösen zu erhellen, der weder in ungünstigen Umständen noch in schlechten Genen zu suchen ist, sondern allein in der menschlichen Freiheit, die Freiheit zum Guten und zum Bösen ist. Wie am Beispiel Fausts gesehen, sind Gut und Böse die zwei Seiten jener Fähigkeit des Menschen, die ihn in den Stand setzt, sich als Gott oder als Teufel zu bestimmen. Das Böse ist so verstanden Resultat einer freien Entscheidung, die das Gute weder zufällig noch aufgrund eines metaphysischen Unfalls, sondern mit Absicht, das heisst: wissentlich und willentlich verfehlt hat.
Das Böse stösst uns nicht zu; wir sind dessen Urheber. Deshalb ist es missverständlich, den bösen Menschen mit einem Raubtier zu vergleichen und ihn als Bestie zu bezeichnen. Denn anders als das wilde Tier, das seine Wildheit und die damit verbundene Grausamkeit nicht selbst gewählt hat, sondern gezwungen ist, sich gemäss den Gesetzen seiner Natur zu verhalten, ist der zur Bestie gewordene Mensch für seine Unmenschlichkeit verantwortlich — jedenfalls in dem Mass, in welchem er seine Macht- und Rachephantasien in die Tat umsetzt und die Entscheidungsbefugnis über das Leben anderer an sich reisst. Seine ideologische Verblendung ist das Resultat eines verfehlten Freiheitsverständnisses, das sich die Interpretationsmacht über Gut und Böse anmasst und sich auf dem Boden einer fanatisierten, terroristisch gewordenen Vernunft autorisiert, alles als böse zu deklarieren und gnadenlos auszumerzen, was sich dem als das eigene Gute Propagierten widersetzt.
Die Freiheit ist das Einfallstor zum Bösen — und zugleich die unaufhebbare Bedingung des Guten. Will man das Böse ein für alle Mal vernichten, muss man die Freiheit und damit auch das durch sie mögliche Gute aufheben. Aber das ist ein Selbstwiderspruch, denn wer auch immer für die Eliminierung der Freiheit zuständig ist — sei es ein Diktator oder eine selbst ernannte Elite —, beansprucht für sich die Freiheit, alle anderen der Freiheit zu berauben und Massnahmen zur Zementierung der allgemeinen Unfreiheit zu ergreifen und durchzusetzen. Wie man mittels massiver manipulativer Eingriffe in die körperlich-geistig-seelische Natur die Menschen gefügig machen kann, führen die schwarzen Utopien des 20. Jahrhunderts eindrücklich vor Augen, die Utopien eines Samjatin etwa, eines Huxley oder eines Orwell.
Die Freiheit lässt sich nur um den Preis des Guten ausschalten, eben darin manifestiert sich jedoch wiederum das Böse, das durch die Vernichtung der Freiheit gerade eliminiert werden sollte. Es gibt kein Mittel, das Böse ein für alle Mal auszurotten, wenn wir die Würde des Menschen an seinen Freiheitsrechten festmachen. Aber wir können diejenigen zur Verantwortung ziehen, die rigoros ihre Freiheit in Anspruch nehmen, um die Freiheitsrechte ihrer Mitmenschen zu verletzen und mit Füssen zu treten. Ob ein Querulant bloss lästig und unbequem ist, weil er penetrant auf seinem Recht beharrt, oder ob er in der Beziehung zu den Mitmenschen die Grenze des Zulässigen überschreitet, vielleicht sogar boshafte Freude daran findet, ihnen Schaden zuzufügen — dies kann nur durch eine sorgfältige Analyse seiner Motive und Absichten geklärt werden. Und wie schwierig dies im Einzelfall ist, brauche ich Ihnen, die Sie mit einschlägigen Sachverhalten aus Ihrer Praxis bestens vertraut sind, nicht eigens zu erläutern.
© AARGAUER ZEITUNG, 23.3.2012
Faksimile
Aargau
Wenn der Staat vor dem Bürger zu schützen ist – Fachtagung · Wer ist ein origineller Querdenker, wer ein notorischer Nörgler und wer ein Querulant, der zur echten Gefahr werden kann?
Solchen Fragen war die diesjährige Tagung der Arbeitsgruppe «therapeutische Jurisprudenz» gestern in der Klinik Königsfelden gewidmet. Ziel: die Zusammenarbeit von juristischen und medizinisch-psychosozialen Fachpersonen im Umgang mit schwieriger «Kundschaft» zu verbessern.
«Querulanten – kriminell, krank oder verzweifelt?» lautete das Tagungsthema. Wohl in den meisten Behörden kann man ein Lied davon singen: Es gibt eine – zumindest gefühlt – zunehmende Zahl von Mitbürgern, die sich ins Unrecht gesetzt fühlen und mit hartnäckiger Verbissenheit für ihr vermeintliches Recht kämpfen. Meist bleibt es bei endlosen Eingaben und allenfalls sie begleitenden Schmähbriefen. Das mit Fäkalien verwüstete Büro ist schon eine massive Eskalation, aber letztlich noch verkraftbar. In die in der Schweiz bislang beispiellose Katastrophe mündete ein Konflikt am 27. September 2001: Der Amokläufer Friedrich Leibacher tötete im Zuger Parlamentsgebäude drei Regierungs- und elf Kantonsräte. Dem Attentat war ein Rechtsstreit Leibachers mit den Zuger Verkehrsbetrieben vorausgegangen. Seine Vorwürfe wurden widerlegt, was er aber nur als Beweis einer Verschwörung des Richterklüngels gegen ihn ansah, worauf sich die Spirale mit Klagen und Beschwerden immer weiter drehte. Ein klassischer Fall von Querulantentum. Denn der Querulant handelt eigentlich aus einer Tugend heraus, nur ist sie bei ihm ins krankhafte gesteigert: das Rechtsgefühl. «Querulanten sind Überzeugungstäter», so der forensische Psychiater Thomas Knecht.
Der damalige Regierungsrat Hanspeter Uster hat das Attentat von Zug mit einem Lungendurchschuss überlebt. Gestern war er Gast in Königsfelden, um über den Umgang mit Querulanten zu sprechen. «Konflikte kann man nicht vermeiden, aber gestalten», sagt Uster. Für die Behörden heisse das zunächst einmal, auf jeden Fall die Menschen ernst zu nehmen, die von ihren Entscheiden betroffen sind. Die Bürger müssten über eine Ansprechstelle verfügen, die sie für unabhängig halten. Die besten Leute brauche es für die Entscheide in erster Instanz, fordert Uster. Eine Behörde dürfe auf keinen Fall so funktionieren, dass sie auf die Korrektur allfälliger Fehler auf der nächsthöheren Ebene baut.
Was die Erkennung von querulatorischem Verhalten betrifft, das zu einer echten Bedrohung werden könnte, habe man in Zug die Idee einer zentralen Meldestelle für entsprechende Vorfälle verzichtet. Uster baut hier stärker auf das Know-how und die Analyseinstrumente der Polizei bei der Beurteilung von Fall zu Fall. Wenn man auf der einen Seite das staatliche Handeln verantwortungsvoll gestalte und auf der anderen über erfahrenes Personal mit einem guten Bauchgefühl verfüge, steige auch die Chance, gefährliche Querulanten zu erkennen und Eskalationen zu vermeiden. (mou)
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