Wir Ärzte haben uns verpflichtet, Leben zu erhalten, Leiden zu mindern und als Erstes nicht zu schaden (primum nihil nocere). Doch was ist Leben? Ein Herz, das schlägt? Eine Lunge, die atmet? Oder eine Seele, die ihren Frieden sucht?

Als Psychiaterin und Seelendoktor setze ich mich für die Seele ein, die ihren Frieden sucht.

Sterben

  • Sterben heisst Abschiednehmen vom Leben und allem, was einem am Leben lieb ist. Sterben heisst loslassen.
  • Es lässt sich jedoch schlecht Abschiednehmen von ungelösten Konflikten innerhalb von Beziehungen.
  • Im Zorn, in der Wut, in der Bitterkeit, in der Enttäuschung oder in der Verzweiflung lässt sich schlecht loslassen. All diese Gefühle lassen uns am Leben festkrallen und verhindern ein Loslassen. In der Wut kann man nicht in Frieden gehen.
  • Im Zorn lässt sich auch keine Beziehung auflösen, auf die Dauer kann man höchstens kurz davonlaufen, aber nicht loslassen.
  • Alle Scheidungen im Zorn erlauben kein Loslassen. ImGegenteil, der Ehekonflikt verfolgt beide Partner auf Lebzeiten. Das gleiche Prinzip gilt für Familienkonflikte. Ein Mensch kann schlecht sterben, schlecht loslassen, wenn noch ungelöste Konflikte um ihn herum sind.
  • Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass angesichts eines drohenden Todes ein grosses Bedürfnis besteht, zwischenmenschliche Konflikte wenn möglich aufzulösen. Beide Seiten haben ein grosses Bedürfnis nach Versöhnung.
  • Stirbt ein Konfliktpartner weg, bleibt der Andere zurück mit dem ungelösten Problem, was dann die Trauer um den Toten unglaublich erschwert, ja manchmal verunmöglicht und somit eine grosse Belastung ist. Der Sterbende kann sich nicht richtig verabschieden, nicht richtig loslassen, wenn der Konflikt nicht gelöst ist.
  • Häufig kommen auch ungelöste Konflikte aus dem früheren jungen Leben, die lange Zeit erfolgreich verdrängt wurden, angesichts des Todes plötzlich wieder zumVorschein.
  • Hier beginnt nun die Intensivbehandlung der letzten Stunde.

Intensivbehandlung vor dem Tod

  • Bekanntlich werden in den letzten drei Wochen oder Monaten vor dem Tod am meisten Krankenkosten ausgegeben.
  • Offensichtlich findet kurz vor dem Tode bei vielen Patienten ein intensiver und gleichzeitig teurer medizinischer Kampf gegen den Tod oder die tödliche Krankheit statt.
  • Wir Ärzte haben ja den Auftrag, Leben zu erhalten, wie Anfangs erwähnt.
  • Wir können den Tod aber nicht immer verhindern, der Tod gehört zum Leben, ohne Tod wäre kein individuelles Leben möglich bzw. das individuelle Leben, das wir alle so sehr schätzen und sicher nicht missen wollen, hat den Tod erfunden.
  • Hier setzt also die psychologische Intensivbehandlung ein, und es geht nicht mehr um die medizinischen lebensrettenden Massnahmen.
  • Diese psychologische Intensivbehandlung besteht aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Patienten und seinen tiefsten Problemen.
  • Es geht um Sinnfragen und darum, alte Konflikte im Beziehungsnetz in der Familie noch zulösen.
  • Die medizinische Begleitperson darf dabei Fragen stellen, damit der Patient sein Leben in groben Zügen nochmals durchgehen kann im Sinne eines narrativen Rekonstruktivismus.
  • Über das Fragenstellen zur Lebensgeschichte klärt und verdeutlicht sich vieles beim Patienten.
  • Wichtige Personen, Bezugspersonen dürfen, ja müssen noch herbeigerufen werden, damit ein letzter richtiger Austausch stattfinden kann.
  • Viele Versöhnungen oder Klärungen im Familiensystem passieren erst am Sterbebett und sind aber dennoch menschlich wichtig, sowohl für den Sterbenden, damit er loslassen kann, als auch für die Überlebenden, damit sie lang verschleppte Konflikte loslassen können und nicht an die nächste Generation weitergeben müssen.
  • Sie mögen denken, dies gehört zur Seelsorge d.h. zum Pfarrer und nicht zum Arzt. Wenn der Pfarrer bereit ist, eine solche Aufgabe zu übernehmen und der Patient dies auch wünscht, darf man diese Aufgabe durchaus auch an den Seelsorger delegieren.
  • Der Pfarrer hat jedoch eine andere Ausrichtung als der systemisch, d.h. familientherapeutisch ausgerichtete Psychiater, Arzt oder auch diePflegerin oder derPfleger.
  • Der Pfarrer betrachtet das Geschehen rund um den Tod ausreligiöser Sicht, was eine allgemeingültige, ich könnte auch sagen archetypische (nach C. G. Jung) Betrachtungsweise ist.
  • Als Arzt, Psychiater oder Krankenschwester, die über längere Zeit intensiv mit dem Patienten zusammengearbeitet und deshalb eine enge menschliche Bindung zu ihm haben, müssen sie auf individueller Ebene persönlich mit dem Patienten umgehen, damit er sich verstanden und dort abgeholt fühlt, wo er sich befindet. Wir dürfen uns nicht mitarchetypischenAllgemeinplätzen zufrieden geben.
  • Und genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir Menschen, die kurz vor dem Tod stehen, nochmals in ihre Lebensgeschichte zurückführen, um ihnen dabei behilflich zu sein, eine einigermassen kohärente Narrative über ihr Leben zu erstellen, damit sie als Individuum und Person Ruhe finden können durch die Auflösung  ihrer Konflikte, ihrer wichtigen traumatischen Lebensereignisse, von denen sie kurz vor dem Tod nocheinmal besonders geplagt werden.
  • Dies stellt die Intensivbehandlung eines Patienten vor dem Tod dar, es geht also nicht um medizinische Interventionen und lebensverlängernde Massnahmen, sondern vielmehr um lebensklärende Massnahmen durch persönliche, mutige Fragestellungen an den Patienten und sein Familiensystem.

Fallbeispiel: Eine MS-Patientin konnte nicht sterben, weil ihre Geschwister noch zu sehr abhängig von ihr waren, denn sie war stets die Schwester, die am meisten Verantwortung getragen hatte in der Familie. So musste sie – obwohl ihre Kräfte dies längst nicht mehr erlaubten – auf Anordnung ihrer Geschwister mit der Spitex-Schwester täglich in der Stube auf und ab gehen. Die Spitex-Schwester war wütend auf die Geschwister, sie fand es unmenschlich, was man von ihr verlangte. Sie konnte die Situation fast nicht mehr ertragen. In einer Supervision kam diese Geschichte zur Sprache und ich riet ihr, das Gespräch mit ihnen zu suchen. Der Ausgangspunkt dabei sollte die Angst vor dem Sterben der Schwester sein und die Folgen des Todes für jedes Einzelne der Geschwister. Die Spitex-Schwester befolgte meinen Rat. Die Situation entspannte sich, die Patientin musste die Stube nicht mehr durchqueren. Die Patientin durfte sich nun um ihren nahenden Tod kümmern. Sie wollte ein Gedicht für ihr Begräbnis verfassen. Alle zusammen brauchten teilweise einen ganzen Tag, um ein Wort der Patientin zu verstehen, da sie fast nicht mehr reden konnte. Als das letzte Wort aufgeschrieben und das Gedicht vollendet war, starb die Patientin. Es war ein tiefbewegendes, unvergessliches Erlebnis für die Spitex-Schwester, als sie an der Beerdigung teilnehmen durfte, und die Familie war ihr sehr dankbar für ihre Sterbebegleitung.

Das starke und mutige, professionelle Gegenüber

  • Um eine solche Art der Sterbebegleitung als Intensivbehandlung der letzten Stunde durchführen zu können, braucht der Arzt oder die Krankenschwester viel Mut und innere Standfestigkeit.
  • Man muss den Tod ganz nah an sich herannehmen, man darf nicht Angst vor ihm haben, man darf  nicht vor ihm davonlaufen und sich hinter medizinischen oder pflegerischen Massnahmen verstecken.
  • Ist man bereit dazu, dann kann einem die Begleitung eines Sterbenden auch viel Kraft geben.
  • Jeder Tod eines Menschen gibt auch Kraft an die Zurückgebliebenen ab.Ich möchte sie alle dazu auffordern und aufmuntern, mutig zu sein und als professionelle Helfer ihre Patienten vor dem Tod mit offenen, persönlichen und familiensystemisch bezogenen, ehrlichen Fragen zu begleiten anstatt mit medizinischem Aktivismus der letzten Stunde, der ablenkt von der eigenen Angst vor dem Tod.Sie werden seelische Kraft daraus schöpfen. Ihr Patient und seine Familie werden Ihnen dankbar dafür sein.